Die Geschichte der Christlichen Wissenschaft in Deutschland: 1881 bis 1896
Der praktische Wert der Christlichen Wissenschaft, Dokumentensammlung 544057, Ordner 540849.
Die Verbreitung der Christlichen Wissenschaft in Deutschland nahm ihren Anfang in den Vereinigten Staaten. Das ist einleuchtend – Mary Baker Eddy, die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft, war Amerikanerin. Zwar reiste sie selbst nie nach Europa, doch lässt sich aus ihrer Korrespondenz ablesen, dass ihre Entdeckung schon früh den Atlantik überquerte.
Und warum nicht? Anfang der 1880er-Jahre hatten sich die Reisemöglichkeiten innerhalb weniger Jahrzehnte enorm weiterentwickelt. Den Atlantik per Ozeandampfer zu überqueren wurde gängige Praxis; und Menschen (sowie Post, also auch Pakete mit Büchern und Broschüren) konnten nun in weniger als einer Woche von New York nach Europa reisen – eine große Verbesserung der Reisedauer und der Kosten. Wegen des relativ einfachen interkontinentalen Reisens ist es gut möglich, dass man in Deutschland bereits Anfang der 1880er-Jahre von der Christlichen Wissenschaft erfuhr.
Der erste uns bekannte Hinweis auf ein Interesse an der Christlichen Wissenschaft in Deutschland stammt aus dem Jahr 1881, als Professor Johann Karl Friedrich Zöllner (1834 – 1882) ein Exemplar der 3. Ausgabe von Eddys Lehrbuch über die Christliche Wissenschaft, Science and Health [Wissenschaft und Gesundheit], erhielt. Zöllner, ein Professor für Astrophysik an der Leipziger Universität, war für sein tiefes Interesse an Spiritualität bekannt. Die erste Ausgabe von Science and Health war 1875, ca. sechs Jahre zuvor, erschienen. Es ist nicht ganz klar, ob Zöllner seine Bücher bestellt oder als Geschenk erhalten hat, doch geht aus den Unterlagen hervor, dass er deren Erhalt bestätigt hat (zu der Zeit bestand Science and Health aus zwei Bänden). Daher wissen wir, dass es 1881 mindestens einen Leser von Science and Health in Deutschland gab!1
In Eddys Korrespondenzübersichten finden wir auch Beispiele deutschen Interesses an der Christlichen Wissenschaft – in diesem Fall Deutsch Sprechende in den USA. Es ist nicht überraschend, dass das Interesse im Mittleren Westen besonders stark war, denn dort hatten sich viele deutsche Einwanderer niedergelassen und dort wurde die Christliche Wissenschaft zunehmend bekannter. Kurz bevor Eddy 1884 zum ersten Mal Chicago besuchte, schrieb ihr ihre Schülerin Caroline Noyes:
Es gibt hier [in Chicago] einen deutschen hochkultivierten Herrn, einen Arzt, der in einem Antiquariat auf Ihre Bücher gestoßen ist und ein solch großes Interesse entwickelt hat, dass er einen langen Artikel für die medizinische Zeitschrift schrieb, in dem er die Vorzüge dessen ausgeführt hat, was er aus dem Buch verstehen konnte; doch er meinte, dass der Artikel für die Herausgeber wohl zu kritisch sei, und hat ihn am Ende nicht zur Veröffentlichung eingereicht. – Einer meiner Patienten, der ihn kennt, erzählte mir davon und versucht, ihn dazu zu bringen, mich zu besuchen. Und ich werde versuchen, den Artikel zu bekommen und an Sie weiterzuleiten.2
Später im selben Jahr schrieb Anna M. Steinmann aus Grand Rapids, Michigan, in einem Brief an Eddy:
Ich bin sehr an dieser Wissenschaft interessiert; sie ist so großartig, so umfassend & Sie müssen so glücklich sein, dass Ihnen gestattet ist, so viel dafür zu tun, um sie zu fördern. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen? Wer ist der Autor dieser Wissenschaft, wurde sie nie praktiziert, bevor Sie damit anfingen? & ist sie dieselbe, die sich in Deutschland so ausbreitet? Oder stammt sie von dort? Das deutsche Gemüt scheint besonders gut für Metaphysik geeignet zu sein, wie die Forschungen zu den großen Schriftstellern zeigen.3
Innerhalb weniger Jahre zeigte sich, dass eine der Hürden für die Verbreitung der Christlichen Wissenschaft in Deutschland sprachlicher Natur sein würde; christlich-wissenschaftliche Literatur stand ausschließlich auf Englisch zur Verfügung. Auch in den USA, in die Tausende deutschsprachiger Einwanderer aus Europa strömten, wurde dies als Problem betrachtet. Anfang 1888 fragte eine Frau aus New York: „Ich wollte Ihr Buch kaufen; wie viel kostet es und haben Sie es auch ins Deutsche übersetzt?“4
Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte die Monatsschrift der christlich-wissenschaftlichen Bewegung, das Christian Science Journal, einen Brief von „L.S.“ aus Oregon, Missouri, der die Notwendigkeit einer Übersetzung erwähnte:
… Sieben von uns absolvierten eine Klasse hier, die von A. F. [Alfred Farlow] unterrichtet wurde. Wir haben eine gute Sonntagsschule, die um zwei Uhr dreißig nachmittags in unserem Haus stattfindet. Im Durchschnitt nehmen fünfzehn bis zwanzig Personen daran teil. Wir würden mehr als doppelt so viele haben, wenn einige nicht so weit draußen auf dem Land wohnten, und einige sind Deutsche, die an unserem Unterricht nicht teilnehmen können. Wie oft habe ich die Deutschen sagen hören: „Wenn wir Science and Health doch nur auf Deutsch hätten, damit wir die Prinzipien der Christlichen Wissenschaft besser lernen könnten.“ Ich hoffe, dass Science and Health in nicht allzu ferner Zeit in die deutsche Sprache übersetzt werden wird. Dann werden viele, die nach der Wahrheit streben, die kostbare Perle finden können …5
Er war nicht der einzige Christliche Wissenschaftler, der um eine Übersetzung bat. Früher in demselben Jahr hatte Eddys Schüler John Linscott ihr von seiner Arbeit in der Christlichen Wissenschaft in Winona, Minnesota, berichtet. Seine Patienten waren „alles Deutsche“, und er drängte auf eine Übersetzung. „Viele bitten mich um das Buch S.H. [Science and Health] auf Deutsch“, schrieb er. „Ich glaube, es wäre weise, eine gute Schrift zu haben, die von Ihnen selbst verfasst ist – und in deutscher Sprache gedruckt wird.“6 Das war das erste Jahr, in dem die Verlagsgesellschaft Schriften herausgab – kurze Broschüren, die zur kostenlosen Verteilung gedacht waren. Eddy ging nicht direkt auf Linscotts Bitte ein, schrieb aber in ihrem nächsten Brief an ihn: „Ihr Brief ist genau das, was ich von Ihnen hören wollte. – Ja, Sie haben den richtigen Weg gewählt, um Ihren Glauben und Ihr Verständnis zu beweisen, bevor Sie weiter vordringen und sich vielleicht zu weit für Sie vorwagen …“7
Der Wunsch, die Christliche Wissenschaft einem internationaleren Publikum zugänglich zu machen, muss auch die Verlagsgesellschaft erreicht haben, denn ein Jahr später, im Februar 1890, gab das Journal bekannt: „Als Reaktion auf die Nachfrage aus verschiedenen Arbeitsgebieten haben wir [die Schrift] ‚Erste Schritte in der Christlichen Wissenschaft‘ auf Deutsch herausgegeben.” Innerhalb einiger Jahre erschienen weitere Schriften auf Deutsch: „Es gibt Ruhe und Frieden auf Erden“ (1892), „Freiheit“ (1892) und „Der praktische Wert der Christlichen Wissenschaft“ (1893).
Nahezu sofort kamen positive Rückmeldungen. Ein Beitrag im Journal berichtete darüber:
Meine Korrespondenz für die Christliche Wissenschaft macht mir bewusst, dass Wahrheit die Welt umfasst. Heute erhalte ich einen klaren Brief aus Paris über diese Wissenschaft; ein anderer kommt als dem fernen Westen [der USA], und ein weiterer ist voll des Triumphes von einem Arbeiter im Süden. Jetzt schreibe ich nach Irland. Unsere Schriften sind beigefügt und reisen in jedem Brief mit. Meine Gedanken erreichen auch einen guten Freund in Indien – einen Missionar und Arzt des Radscha, den die Schrift „Erste Schritte in der Christlichen Wissenschaft“ nun veranlasst, sich mit der Wahrheit zu befassen. In ein oder zwei Tagen hoffe ich, einige deutsche Broschüren nach Berlin schicken zu können und an mehrere Deutsche hier, die freudig darauf warten. — D. K., Albany, N. Y.8
Ein Jahr später gab es bereits Bedarf an weiterer Literatur:
Wurde Science and Health ins Deutsche übersetzt oder soll es übersetzt werden? Wie sehr ich mir solch ein Buch in Berlin wünschte! Als sich mir die Gelegenheit bot, meiner Vermieterin die Christliche Wissenschaft vorzustellen – das war das erste Mal, dass sie jemals von diesem Begriff gehört hatte. Der offensichtlichen Begrenzung einer Fremdsprache zum Trotz, da sie sehr wenig Englisch kann, fingen wir an, aus der „Zusammenfassung“ zu lesen. Die Bereitwilligkeit war da, und ein Bewusstsein der Gegenwart des Geistes, was Licht und Verständnis verbreitete. Eine Idee nach der anderen wurde vorgestellt und verdeutlichte sich ihrem Verständnis auf wunderschöne Weise. Dann folgten die kompromisslosen Aussagen – die jedem Glauben an eine sogenannte Lebenszeit widersprachen. Ihnen wurde mit Erstaunen und dem Widerstand des sterblichen Gemüts gegen ihre Wahrheit begegnet; doch als gesagt und bewiesen wurde, dass geistige Tatsachen nur aus der Sicht der Christlichen Wissenschaft erkannt werden können – war dies eine Offenbarung! Vierzehn Tage gelegentlichen Lesens scheint allzu kurz zu sein; doch als ich nach Dresden kam, überließ ich ihr die einzige deutsche Schrift – „Erste Schritte in der Christlichen Wissenschaft“ – zusammen mit jeweils einem Exemplar von Rudiments and Rules [Grundzüge und Regeln] und No and Yes [Nein und Ja] auf Englisch, mit der Absicht später London zu bitten, Science and Health zu schicken. Nach ihrer Auffassung würde sie einige Hilfe mit der englischen Sprache brauchen, um guten Fortschritt zu machen; doch ich habe bereits ein Exemplar von Science and Health aus London nach Berlin bestellt, da ich nichts von einer Übersetzung des Buches ins Deutsche weiß …9
Im Journal vom August 1891 führte Eddys Schülerin Annie Dodge – die viel im Ausland unterwegs war – Orte auf, in denen sie die neue überarbeitete Ausgabe von Science and Health (die 50. Ausgabe auf Englisch) verschenkt hatte. Darunter waren auch Dresden und Berlin. 1893 wurde Hans Eckert, ein in den USA lebender Deutscher, Mitglied der Mutterkirche in Boston. Als er 1894 nach Deutschland zurückkehrte, trug er maßgeblich zum Wachstum der Christlichen Wissenschaft in Stuttgart bei.
Doch wer sollte die Verbreitung der Christlichen Wissenschaft in Deutschland voranbringen – Deutsche oder Amerikaner? Sollte Literatur auf Deutsch verfügbar sein oder nur auf Englisch? Würde es Gottesdienste geben – und würden sie auf Deutsch stattfinden? Auf diese entscheidenden Fragen wurden nach und nach Antworten gefunden, als Laura Lathrop aus New York City 1896 eine Elementarklasse im Heilen in der Christlichen Wissenschaft unterrichtete. An dieser Klasse nahmen zwei Schülerinnen teil, die entscheidend dazu beitragen würden, Eddys Entdeckung nach Deutschland zu bringen: Bertha Günther-Peterson und Frances Thurber Seal. Der nächste Teil dieses Artikels wird diese bemerkenswerten Frauen vorstellen und darüber berichten, welchen Beitrag sie geleistet haben.
- Siehe Christian Scientist Association Account book 1881-1884 [Geschäftsbuch der Vereinigung Christlicher Wissenschaftler 1881–1884], EOR29, 35.
- Caroline Noyes an Mary Baker Eddy, 10. April 1884, IC304.43.006.
- Anna M. Steinmann an Eddy, 27. Dezember 1884, IC346.47.004. Steinmann war Amerikanerin, doch „überwiegend in Deutschland ausgebildet“, wie man ihrer undatierten Bewerbung zum Unterricht am Lehrinstitut für Metaphysik in Massachusetts entnehmen kann, L18439, 85.
- Rosa Kaiser an Eddy(?), 17. Januar 1888, L17834.
- „Open Letters“ [Offene Briefe], The Christian Science Journal, August 1889, 263.
- John Linscott an Eddy, 10. Februar 1889, IC164aP1.28.016.
- Eddy an Linscott, 20. Februar 1889, L04112.
- „Notes from the Field“ [Mitteilungen aus dem Feld], Journal, März 1890, 601.
- „Germany“ in „Notes from the Field“ [“Deutschland” in den “Mitteilungen aus dem Feld”], Journal, März 1891, 535.