Die Morgenröte: „Ein Meisterwerk der Kunstfertigkeit“
Eines der dramatischsten Gemälde, das Mary Baker Eddy besaß, ist Die Morgenröte – es stellt die Mutterkirche, Die Erste Kirche Christi, Wissenschaftler, in Boston dar. Hier ist die Geschichte hinter diesem Werk des berühmten amerikanischen Künstlers John Joseph Enneking (1841–1916). Kurz nach der Einweihung des Erweiterungsbaus der Mutterkirche am 6. Juni 1906 erhielt William B. Johnson – Schriftführer und Mitglied des Vorstands der Ersten Kirche Christi, Wissenschaftler – einen Brief im Namen von Mary Baker Eddy von Pamelia Leonard (einer Mitarbeiterin in ihrem Haushalt). Er enthielt folgende Anweisung
… Mrs. Eddy hat mich gebeten, Ihnen zu schreiben und ihren Wunsch mitzuteilen, Sie mögen bitte dafür sorgen, dass ein gutes Bild der Mutterkirche und des Erweiterungsbaus, wie wir sie heute kennen, angemessen gerahmt und an sie geschickt werde.1
Johnson bat seinen Sohn William Lyman Johnson, der Assistent im Büro des Schriftführers und Mitglied des Finanzkomitees war, ein Bild machen zu lassen. Lyman Johnson fotografierte die Mutterkirche, die aus zwei Gebäuden besteht: dem Originalgebäude von 1894, einem romanischen Bauwerk, und dem Erweiterungsbau mit der Kuppel, mit seinen byzantinischen und italienischen Merkmalen. Aus diesen Fotos wählten Vater und Sohn eine Aufnahme, um sie Mary Baker Eddy zu senden. Sie billigte die Aufnahme, die die Johnsons gewählt hatten, und überließ es den Direktoren zu entscheiden, ob das Bild in Öl oder Pastellkreide gemalt werden sollte. Die Direktoren baten Lyman Johnson, einen Künstler zu finden, der dem Sujet „gerecht werden“ könne.2 Einige Tage später traf er sich mit einer Gruppe von Künstlern und es fand eine Diskussion darüber statt, wie ein Bild der neuen Gebäude dargestellt werden sollte.3 (Es ist nicht klar, ob Lyman Johnson die Künstler selbst zusammengerufen hat oder ob er an einem Treffen teilnahm, das ein anderer organisiert hatte.) Lyman Johnson erinnerte sich später daran, dass niemand in der Gruppe daran interessiert war, das bescheidenere Originalgebäude zusammen mit dem hoch aufragenden Erweiterungsbau zu malen außer Enneking; er war der Meinung, dass ein Blick aus dem richtigen Winkel eine sehr schöne Komposition mit beiden Gebäuden schaffen würde. Am nächsten Tag begab sich Lyman Johnson in Ennekings Atelier, wo er Skizzen sah, die der Künstler bereits angefertigt hatte. Enneking deutete an, dass es schon seit der Fertigstellung des Erweiterungsbaus sein Wunsch gewesen sei, ein Gemälde der Kirchen anzufertigen. John J. Enneking gilt als einer der bedeutendsten Landschaftskünstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er wurde in einer Kleinstadt in Ohio geboren und begann schon als Junge zu zeichnen. Nachdem er innerhalb eines Jahres beide Eltern verloren hatte, zog er zu seiner Tante und seinem Onkel nach Cincinnati. Im Alter von 16 Jahren besuchte er dort seine erste Kunstausstellung, und damit wurde der Grundstein für seine Laufbahn als Künstler gelegt. Er besuchte das St. Mary‘s College in Cincinnati, wo er die Grundlagen des Zeichnens erlernte. Nachdem er Kriegsdienst im amerikanischen Bürgerkrieg geleistet hatte, ging Enneking nach New York, um seine Ausbildung in der Malerei fortzusetzen. Bald darauf zog es ihn nach Boston, weil er von der dortigen aufblühenden Kunstszene gehört hatte. Dort gelang es ihm, genügend Gemälde zu verkaufen, um 1872 einen Umzug mit seiner Familie nach Europa zu finanzieren. Er reiste und malte und landete schließlich in Paris,4 wo er die Gemälde renommierter europäischer Künstler sah, einschließlich jener, die später als Impressionisten bekannt werden sollten. Enneking malte mit vielen von ihnen, darunter Renoir, Manet, Monet und Pissarro; Corot und Millet wurden seine Freunde.5 1876 kehrte Familie Enneking in die Vereinigten Staaten zurück und zog nach Hyde Park in der Nähe von Boston. Enneking war in den kulturellen und gesellschaftlichen Kreisen Bostons bald eine prominente Persönlichkeit. Er malte, lehrte und hielt Vorträge. Er war auch ein Naturliebhaber und ein Verfechter des Naturschutzes. Als ein Maler des Lichts, der von dessen unterschiedlicher Intensität fasziniert war, malte Enneking oft im Freien. Es war nicht ungewöhnlich, dass er sich tagelang der Freilichtmalerei widmete, wobei er „Studien über jeden typischen Ausdruck … von Farbe, Schattierung und Werten anfertigte, die der stündlichen Veränderung durch atmosphärische Wirkungen unterlagen …“6 (Später übertrug er seine Studien in seinem Atelier auf Leinwand.) Die Einführung zum Katalog Memorial Exhibition of Paintings by John J. Enneking [Gedenkausstellung der Gemälde von John J. Enneking] beschreibt anschaulich die Malerei des Künstlers: „… er poetisierte das ganze Sujet, hüllte es in leuchtende Wellen von Licht, vergeistigte es durch das Denken und die Liebe, bis es zu einer schimmernden, verklärten Harmonie von Farbtönen wurde.“7 Das beschreibt zutreffend sein Gemälde der Kirche der Christlichen Wissenschaft. In einem Brief an Mary Baker Eddy erklärte William Johnson, die Absicht des Künstlers für das Gemälde sei es, „die Schönheit der edlen, in reines Licht getauchten Kuppel darzustellen“.8 In Vorbereitung auf ein Treffen mit den Direktoren der Kirche schrieb ihnen William Johnson, um sie über die Fähigkeiten des Künstlers und einige der ihm verliehenen Preise zu informieren. Sie beauftragten John Enneking, das Gemälde der Mutterkirche zu einem vereinbarten Preis von 1.000 Dollar anzufertigen (2015: etwa 24.000 Dollar). In dem Schreiben vom 22. Februar 1907 zur Bestätigung des Preises erinnerte William Johnson den Künstler daran, dass er in einem Gespräch mit den Direktoren am 16. Februar darauf hingewiesen habe, dass das Gemälde in vier Monaten fertiggestellt werden könne.9 (In Pierce und Kristiansen [152] wurde fälschlicherweise berichtet, dass die Kosten für das Gemälde $10.000 betragen hätten.) In der Zwischenzeit unterstützte Lyman Johnson den Künstler bei seiner Arbeit, indem er ihm Informationen über die Größe des gewünschten Gemäldes gab, Notizen über den Einfall und die Qualität des Lichts in dem Flur machte, in dem das Gemälde in Pleasant View (Eddys Wohnsitz in Concord, New Hampshire) aufgehängt werden sollte, und als Verbindungsperson zu den Direktoren und zu Eddy fungierte. Im Juli schrieb Lyman Johnson an Mary Baker Eddy, um ihr gute Neuigkeiten von John Enneking mitzuteilen. Wie gewohnt hatte er Studien für das Gemälde angefertigt und zwei für sie zur Ansicht ausgewählt, damit sie eine für das endgültige Gemälde wählen konnte.10 … Eine zeigte beide Gebäude im Mondschein, sehr poetisch und anmutig, mit den Lichtern eines Abendgottesdienstes, die durch die Fenster des neuen Gebäudes schienen, das zwischen den Sternen emporragte, … Die andere Skizze stellte die Kirchen in dem Moment dar, als gerade ein großer Sturm über sie hinweggezogen war. Die Bürgersteige waren nass und dampfend; die tückischen, brutalen, sturmgeladenen Wolken von blauschwarzer Farbe … hatten sich direkt über der Kuppel und dem Turm zerteilt und das Sonnenlicht ergoss sich über sie im vollen Morgenglanz … Mary Baker Eddy gefielen beide Skizzen, sie entschied sich aber schließlich für die des überstandenen Sturms.11 William B. Johnson schrieb ihr am 26. Juli 1907:
Mr. John J. Enneking, der Künstler, der ausgewählt wurde, um ein Bild der Mutterkirche für Sie zu malen, hat sein Werk abgeschlossen, und die Direktoren schicken Ihnen das Bild gerne als liebevolles Geschenk Ihrer Kirche, wenn Sie mitteilen, dass Sie es in Empfang nehmen möchten … Mr. Enneking hat den Wunsch geäußert, zu Ihnen nach Hause zu kommen und das Bild so aufzuhängen, dass es sich optimal präsentiert. Wäre es Ihnen genehm, ihm dies zu gestatten?12
Es gibt keine Hinweise darauf, dass John Enneking Pleasant View tatsächlich besucht hat. Aber am nächsten Tag schrieb William Johnson an Mary Baker Eddy und legte einen langen Brief des Künstlers bei, in dem dieser seine Zielsetzung für das Malen der Kirche der Christlichen Wissenschaft erläuterte.13 (Der vollständige Brief wurde später am 16. Mai 1908 im Christian Science Sentinel abgedruckt.) In seinem Brief sprach Johnson über die Errungenschaften und das Talent des Künstlers und erklärte, dass Enneking, obwohl kein Christlicher Wissenschaftler, „intensiv interessiert sei und sie [die Christliche Wissenschaft] kraftvoll verfechte“, was zum Teil seine Inspiration für das Malen dieses Bildes erklären könnte.14 Enneking nannte das Gemälde Die Morgenröte, oder, wie er es erklärte, „Das Aufdämmern einer neuen Phase der Religionsausübung, die auf Leben, Wahrheit und Liebe basiert.“ Er fuhr fort: „Diesen Gedanken oder diese Empfindung hatte ich mehr oder weniger im Kopf, während ich das Bild malte.“ Bei der Beschreibung seiner Verwendung von Licht und Schatten als repräsentativ für die Christliche Wissenschaft bedient sich der Künstler Bezeichnungen wie Lichtglanz, verheißungsvolles Morgenlicht, ein wärmerer Glanz, eine ganze Masse an Licht und reflektiertes Licht – Begriffe, mit denen seine Bilder am häufigsten assoziiert werden.15 Das Bild lagerte anscheinend einige Zeit unbeachtet an einem abgedunkelten Ort in seinem Atelier. Dies mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass Mary Baker Eddys Aufmerksamkeit auf den Prozess der „Nächsten Freunde“ und ihren anschließenden Umzug nach Chestnut Hill, Massachusetts, im Januar 1908 gerichtet war. (Der Prozess der „Nächsten Freunde“ wurde angestrengt, um Eddys Kompetenz zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten festzustellen. Der Prozess begann am 1. März 1907, endete am 21. August 1907 und die Klage wurde am 30. September 1907 offiziell abgewiesen.) Infolge dieser Verzögerung schwitzte das Bild überschüssiges Öl aus und Enneking musste sich darum kümmern, bevor Die Morgenröte geliefert werden konnte. Aufgrund des Oberflächenzustands des Gemäldes war Enneking der Meinung, dass die Farben „ineinander verlaufen und ein satteres Bild ergeben“ würden, sobald es seiner neuen Umgebung ausgesetzt würde. Er empfahl, das Bild mindestens drei Jahre lang nicht zu firnissen. Dieses Werk, das dafür gedacht war, in Pleasant View zur Schau gestellt zu werden, wurde am 30. März 1908 an Mary Baker Eddys neues Heim in Chestnut Hill geliefert.16
Die Schaffung eines Gemäldes der Mutterkirche war ein monumentales Unterfangen für John Enneking. Es wird berichtet, dass er „Momente der Besorgnis und der Entmutigung“ hatte, „in denen die Schwierigkeiten, die Gebäude künstlerisch zu präsentieren, überwältigend erschienen“. Lyman Johnson bemerkte:
Das Bild ist eines, das, wie gute Freunde, gute Musik und gute Literatur, mehr geschätzt wird, wenn man häufig mit ihm in Kontakt kommt. Es ist eines, das durch seine Kraft und Würde, Symbolik und Farbgestaltung seine Schönheit und Wahrheit nach und nach offenbart. Aufgrund der Schwierigkeit des Themas und der Art und Weise, wie Mr. Enneking damit umgegangen ist, denke ich, dass es sein Meisterwerk der Kunstfertigkeit hinsichtlich Farbe, Zeichnung und Konzeption ist.17
Mary Baker Eddy würdigte John J. Ennekings Bemühungen in einer sehr wertschätzenden Zeile (aus dem Brief, der im Christian Science Sentinel vom 16. Mai 1908 abgedruckt wurde):
Ihr Bild von der Mutterkirche Christi, Wissenschaftler, zeichnet den Künstler aus, zeigt einen Werdegang und verleiht ihm Glanz.18
- 1. Pamelia J. Leonard an William B. Johnson, 2. Oktober 1906, F00795.
- SF – Johnson, William Lyman, bzgl. Ennekings Gemälde – „Morgenröte“.
- Ebd.
- Jesse B. Rittenhouse, „The Art of John J. Enneking“ [Die Kunst von John J. Enneking], Brush and Pencil [Pinsel und Bleistift], September 1902, 335–345.
- P. J. Pierce und R. H. Kristiansen, John Joseph Enneking: American Impressionist Painter [John Joseph Enneking: Amerikanischer impressionistischer Maler] (Hingham MA, Pierce Galleries, Inc., 1972), 63.
- Rittenhouse, 337
- Memorial Exhibition of Paintings by John J. Enneking [Gedenkausstellung von Gemälden von John J. Enneking], Boston Art Club, 2. bis 17. März 1917, Katalog.
- W. L. Johnson an Mary Baker Eddy, 27. Juli 1907, Fach 536218, Ordner 24947.
- W. L. Johnson an John J. Enneking, 22. Februar 1907, Fach 18000, Ordner 24948.
- SF – Johnson, William Lyman, bzgl. Ennekings Gemälde – „Morgenröte“.
- Ebd.
- W. L. Johnson an Eddy, 26. Juli 1907, Fach 18000, Ordner 24948.
- Enneking an Eddy, 27. Juli 1907, IC 596.
- W. L. Johnson an Eddy, 27. Juli 1907, Fach 536218, Ordner 24947.
- Enneking an Eddy, 27. Juli 1907, IC 596.
- W.L. Johnson an Calvin A. Frye, 27. März 1908, IC 153.
- W.L. Johnson an Eddy, 30. März 1908, IC 593.
- Eddy an Enneking, o. J., V04982.