Frauen der Geschichte: Bette Graham
Vor der Einführung von Computern benutzten Büroangestellte Schreibmaschinen, um Dokumente zu erstellen. Und im Gegensatz zu heute war es viel schwieriger, einen Fehler zu korrigieren, als nur auf die Rücktaste oder die Löschtaste des Computers zu drücken. Als Bette Nesmith Graham (1924–1980) sich als alleinerziehende Mutter durchkämpfte, entwickelte sie in ihrer Küche eine innovative Lösung, die unter dem Namen „Liquid Paper“ (Flüssiges Papier bzw. Korrekturflüssigkeit) bekannt wurde – sie schuf eine Industrie, die die Büroarbeit entscheidend zum Besseren veränderte. Das machte sie zu einer sehr erfolgreichen Geschäftsfrau.
Noch bemerkenswerter an der Geschichte ist jedoch die Tatsache, dass diese Innovation nicht bei der Entwicklung eines Produkts für den Bürobedarf stehengeblieben ist. Graham war zukunftsorientiert und setzte sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Sie entwickelte ein Geschäftsmodell, das in hohem Maße von ihrem christlich-wissenschaftlichen Glauben inspiriert war und das Fairness am Arbeitsplatz und dem Wohlergehen der Mitarbeiter:innen großen Wert beimaß. Ihrem Sohn zufolge „schrieb sie den gesamten Erfolg ihres Geschäfts und ihr großes Glück ihrem Studium und ihrer Praxis der Christlichen Wissenschaft zu …“1
Sie wurde als Elizabeth Clair McMurray als Tochter der Eltern Jessie McMurray und Christine Duval geboren, die sie in der texanischen Stadt San Antonio großzogen.2 Ihre Mutter vermittelte ihr künstlerisches Wissen und Fähigkeiten, die sich in ihrem weiteren Leben als überaus wichtig erweisen sollten.3 So sehr sie sich auch eine Karriere in der Kunst wünschte, diese Berufswahl hätte ihr keine finanzielle Absicherung geboten. Sie brach die High School ab und heiratete Warren Nesmith im späten Teenageralter. Sie hatten einen Sohn, Michael (1942-2021). Aber nachdem Warren vom Dienst im Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war, ließ sich das Paar 1946 scheiden.4 Als alleinerziehende Mutter arbeitete Graham unermüdlich, um Michael und sich selbst durchzubringen. 1951 nahm sie eine Stelle als Schreibkraft bei der Texas Bank & Trust an, und dort begannen ihr Produkt und ihr Geschäft unerwartet aufzublühen.5
Selbst während ihrer Tätigkeit als Sekretärin gab Graham ihre künstlerische Tätigkeit nie auf. Auch wusste sie aus erster Hand, welche Mühe das Löschen von Fehlern für jede Schreibkraft bedeutete.6 Aus ihrer Zeit als Künstlerin und aus ihrer Vertrautheit mit Produkten wie Farbe und Lösungsmittel erinnerte sie sich daran, dass Maler ihre Missgeschicke oft einfach übermalen. Und sie erkannte, dass sich dasselbe Konzept auch im Büro anwenden ließ.7 Als sie feststellte, dass ihre selbstgemachte Korrekturflüssigkeit tatsächlich funktionierte, teilte sie diese mit ihren Kolleg:innen. Dieser Erfolg in der Praxis und die Unterstützung durch eine Reihe von Branchenerfahrenen leiteten den mühsamen Prozess der Entwicklung einer wirklich marktfähigen Formel ein, die es Schreibkräften ermöglichen würde, ihre Fehler auf dem Papier konsequent und mit minimalen Rückständen zu tilgen.8 Es folgten Jahre, in denen sie ihr Produkt perfektionierte, das sie zunächst “Mistake Out” [Fehler raus] nannte. Während dieser Zeit konnte sie es sich nicht leisten, eine Patentgebühr zu zahlen.
Eine biografische Skizze der Gihon Foundation [Gihon Stiftung] schildert Graham als eine echte Unternehmer:innenpersönlichkeit:
Für die Verbesserung ihres Produkts wurde sorgfältige Forschung betrieben. In der öffentlichen Bibliothek fand sie eine Formel für [Tempera-]Farbe, und ein Chemielehrer an der St. Mark’s School half ihr bei ihren Experimenten. Ein Angestellter eines Farbherstellers zeigte ihr, wie man Farben zermahlt und mischt. Michael Nesmith, ihr Sohn, und seine Freunde füllten das Produkt in Flaschen ab und verkauften es an wahllos aus dem Telefonbuch ausgewählte Bürobedarfsgeschäfte. Berichte über Liquid Paper in Fachzeitschriften führten zu Bestellungen aus dem ganzen Land, und der erste Großauftrag über 300 Flaschen in drei Farben kam von General Electric. Da fasste Bette den Entschluss, nur noch Teilzeit als Sekretärin zu arbeiten und mehr Zeit in ihrem Küchenlabor zu verbringen. Im Jahr 1960 schrieb ihr Unternehmen rote Zahlen, aber sie blieb hartnäckig. Nach ihrer Heirat mit Robert M. Graham im Jahr 1962 reisten beide durch den Süden und Westen der USA, um Liquid Paper persönlich zu vermarkten. Das war der Wendepunkt. Liquid Paper hatte es auf den Markt geschafft.9
Irgendwann entließ die Bank Graham, weil sie ein Dokument mit dem Namen ihres persönlichen Unternehmens unterzeichnet hatte. Doch das erwies sich als Glück im Unglück, denn es gab den Anstoß, die Flüssigkeit unter ihrem neuen Namen 1968 endlich zu patentieren.10
Graham verlegte ihren Betrieb in den späten 1960er Jahren nach Dallas.11 Ihr Erfolg war nicht ohne Kampf; sie hatte oft das Gefühl, dass ihr nicht der gebührende Respekt entgegengebracht wurde, weil sie eine Frau war. Michael Nesmith erinnerte sich an eine Zeit, in der sie sich erleichtert zeigte, als sie hörte, dass er die Frauenbewegung voll und ganz unterstützte – eine Bewegung, die zu dieser Zeit sowohl prominent als auch kontrovers war:
Bis ich ihre Reaktion sah, hatte ich keine Ahnung davon, dass sie dachte, ich würde Frauen in meinem Denken einen minderwertigen Platz einräumen. Mit einer Mutter wie ihr hätte mir nichts ferner liegen können als Frauenfeindlichkeit. Sie bewies täglich Mut und Standhaftigkeit, Weisheit und Stärke, die ich bewunderte und nachahmte. Sie hat mir beigebracht, ein echter Mann zu sein. Auf die gleiche Weise zeigte sie mir den Wert meiner eigenen Weiblichkeit.12
Auf diese Weise kämpfte Graham weiterhin um Respekt – selbst im Kreise derer, die ihr am nächsten standen. Als ihr zweiter Ehemann nach der Scheidung versuchte, sie aus dem Unternehmen zu drängen, kämpfte sie um die Kontrolle und behielt einen Anteil von 49 Prozent. Drei Jahre später verkaufte sie ihn widerwillig und sicherte sich für die nächsten 20 Jahre Lizenzgebühren für jede verkaufte Flasche des Produkts.13
Bette Graham und Kolleg:innen, 13. Januar 1978. © 2023 The Dallas Morning News, Inc.
Grahams künstlerische Begabung und ihre Beharrlichkeit hatten eine flüchtige Idee in ein reales Produkt verwandelt. Doch nach ihren eigenen Worten war es die Christliche Wissenschaft, die ihr die nötige Orientierung gab:
Sie trat zutage, indem ein Problem chronischen Mangels auf geistige Weise gelöst wurde – durch radikale, geistige Mittel. Ich hatte größte Mühe, anderen verständlich zu machen, dass der Erfolg des Unternehmens nicht auf eine außergewöhnliche Fähigkeit meinerseits zurückzuführen war, sondern auf die direkte Wirkung dieser klaren Erkenntnis, dass Geist [Gott] Substanz ist – eine Erkenntnis, die jedem zugänglich ist.14
Grahams erste Begegnung mit der Christlichen Wissenschaft hatte stattgefunden, als sie Mitte der 1940er Jahre nach einer Harnvergiftung im Koma lag. Warren Nesmith war Christlicher Wissenschaftler und hatte seine Tante, die eine Praktikerin der Christlichen Wissenschaft war, um Hilfe gebeten. Ihre Gebete für Graham führten zu einer sofortigen Heilung, und sie selbst nahm die Religion an.15 1953 nahm sie am Elementarunterricht in der Christlichen Wissenschaft teil. Später wurde sie selbst Praktikerin der Christlichen Wissenschaft und inserierte von Dezember 1968 bis zu ihrem Weitergehen 1980 im Christian Science Journal.
Als ihr Vertrauen in die Christliche Wissenschaft wuchs, wuchs auch ihr Erfolg.16 Die Praxis der Christlichen Wissenschaft durchdrang auch ihr persönliches Leben. Michael bemerkte einmal: „Der geistige Sinn, den meine Mutter und ihre Schwester und ihre Tanten und ihre Familie um sie herum hatten, ist die eine bemerkenswerte Sache, die ich mitgenommen habe …”17 In seinem autobiografischen Werk, Infinite Tuesday [Unendlicher Dienstag], spricht er ausführlich über die zentrale Rolle, die Grahams Religion in ihrem Leben spielte, und beschreibt auch seine eigene bedeutsame Verbindung zu ihr:
„Während Bettes Leben stand ich ihr so nahe, wie man es sich für eine junge, alleinstehende Mutter und ihren Sohn nur vorstellen kann. Auch nachdem ich mit achtzehn Jahren von zu Hause ausgezogen war, sprachen wir fast jeden Tag mehrmals am Tag miteinander. Jedes Mal, wenn wir miteinander sprachen, nutzten wir einen Teil der Zeit dafür, uns über Metaphysik und die Christliche Wissenschaft auszutauschen.”18
Dies war ausschlaggebend für die Art und Weise, wie sie ihr Unternehmen führte. Alle Angestellten, von Sekretär:in bis zum Vorstandsmitglied, wurden gebeten, in den Besprechungen Ideen einzubringen. Und Graham führte Arbeitgeberleistungen ein, die zu dieser Zeit beispiellos waren, darunter Zugang zu einer Kreditgenossenschaft für die Mitarbeiter:innen, ein Rentenprogramm, Kinderbetreuung vor Ort und die Übernahme von Unterrichtsgebühren für Weiterbildungen.19
In einem Interview mit dem Journal aus dem Jahr 1978 erläuterte sie, wie sie dazu kam, diese Leistungen und die Atmosphäre der Gleichberechtigung in ihrem Unternehmen zu konzipieren:
Seit den Anfängen des Unternehmens gab es einen langfristigen Plan, unsere Geschäftspraktik zu verbessern – das Geschäft als etwas zu sehen, das über die üblichen Funktionen der Herstellung und der Lieferung des Produkts an die Verbraucherin oder den Verbraucher hinausgeht. Ich habe darauf hingewirkt, das Geschäft auf den geistigen Wert des Menschen zu gründen. Das Denken der Angestellten ist das wertvollste Gut und nicht die Gebäude und das Geld. Dieses Konzept hat das Unternehmen gesegnet und sehr talentierte Angestellte angezogen, aber es verlangt, dass die Angestellten anders als üblich behandelt werden. Es bedeutet zum Beispiel sogar, dass die Vorstandsmitglieder nicht nur aufgrund ihres Geschäftssinns ausgewählt werden.20
Diese Vision reichte auch über das Unternehmen hinaus. Graham setzte ihre Mittel philanthropisch ein und gründete die Gihon Foundation, um Frauen in der Kunst zu unterstützen, und die Bette Clair McMurray Foundation, um benachteiligten Frauen zu helfen.21
Wie sie in ihrem Interview mit dem Journal erklärte, erkannte Graham den „geistigen Wert des Menschen” – und meinte damit jeden Menschen, unabhängig von seiner Stellung im Leben.22 Sie erkannte auch, dass es die Menschen waren, die ihr Unternehmen erfolgreich machten. Durch die Art und Weise, wie sie ihre Angestellten behandelte und wertschätzte, manifestierte sie ihre Überzeugung, dass solider Wohlstand daraus entsteht, dass man die Menschen respektiert und daran glaubt, dass sie Gott zum Ausdruck bringen, und nicht aus materiellen Dingen und Profit.
Bette Grahams Produkt und ähnliche Produkte können dank der leicht zu bedienenden Löschtaste nun als überholt betrachtet werden. Aber ihre Eigenschaften wie Beharrlichkeit, innovatives Denken, Geschäftsethik und persönlicher Glaube sind auch in der heutigen Welt noch sehr aktuell.
Wenn Sie an weiteren Informationen über Bette Graham interessiert sind, hören Sie sich unsere Seekers and Scholars [Suchende und Forschende] Podcast-Folge an „Bette Graham, Liquid Paper, and the spiritual force of an original idea“ [Bette Graham, Liquid Paper und die geistige Kraft einer originellen Idee].
Dieser Artikel steht auch auf unseren englischen, französischen, portugiesischen und spanischen Webseiten zur Verfügung.
- Michael Nesmith, Infinite Tuesday: An Autobiographical Riff [Endloser Dienstag: Eine autobiografische Szene] (New York: Crown, 2018), 7.
- „Biographical Sketch of Bette Graham” [Biografische Skizze von Bette Graham], https://www.gihon.com/about.php/.
- Zachary Crockett, „The secretary who turned Liquid Paper into a multimillion-dollar business” [Die Sekretärin, die aus „Liquid Paper“ ein Millionengeschäft machte], The Hustle, 23 April 2021, https://thehustle.co/the-secretary-who-turned-liquid-paper-into-a-multimillion-dollar-business/.
- Andrew R. Chow, „Overlooked No More: Bette Nesmith Graham, Who Invented Liquid Paper” [Nicht mehr zu übersehen: Bette Nesmith Graham, die Erfinderin des „Liquid Paper“], WRAL.com, 13. Juli 2018, Copyright 2018, The New York Times, https://legacy.wral.com/overlooked-no-more-bette-nesmith-graham-who-invented-liquid-paper/17694791/.
- Ebd.
- Crockett, „The secretary who turned Liquid Paper into a multimillion-dollar business”.
- Ebd.
- Nancy Baker Jones, „Graham, Bette Clair McMurray,” Handbook of Texas Online [Handbuch von Texas Online], Zugriff am 25. Januar 2023, https://tshaonline.org/handbook/entries/graham-bette-clair-mcmurray/.
- “Biographical Sketch of Bette Graham”, https://www.gihon.com/about.php/.
- Zameena Mejia, „How inventing Liquid Paper got a secretary fired and then turned her into an exec worth $25 million“ [Wie eine Sekretärin wegen der Erfindung von Liquid Paper gefeuert wurde und dann zu einer 25 Millionen Dollar schweren Führungskraft wurde], Make IT: CNBC, 18. Juli 2018, https://www.cnbc.com/2018/07/19/inventing-liquid-paper-got-a-secretary-fired-and-then-made-her-rich.html/.
- Chow, „Overlooked No More”.
- Nesmith, Infinite Tuesday, 51.
- Crockett, „The secretary who turned Liquid Paper into a multimillion-dollar business”; Nesmith, Infinite Tuesday, 202-203.
- Madelon Maupin, „Ein Interview: Sie gründete ein internationales Unternehmen auf einer geistigen Basis”, Der Herold der Christlichen Wissenschaft, August 1979, https://de.herald.christianscience.com/deutsch/issues/1979/8/077-08/ein-interview-sie-gruendete-ein-internationales-unternehmen-auf-geistiger-basis/.
- Nesmith, Infinite Tuesday, 48.
- Andrew R. Chow, „Overlooked No More”.
- Robert Wilonsky, „Dallas’ Monkee Michael Nesmith hat etwas zu sagen: That was then, this is now” [Dallas’ Monkee Michael Nesmith hat etwas zu sagen: Das war damals, dies ist heute], The Dallas Morning News, 25. August 2016, https://www.dallasnews.com/opinion/commentary/2016/08/25/dallas-monkee-michael-nesmith-has-something-to-say-that-was-then-this-is-now/.
- Nesmith, Infinite Tuesday, 47.
- Tanya Tar, „How This Former Secretary Built A Multimillion-Dollar Corporation (Without Any Capital)” [Wie diese ehemalige Sekretärin ein Multimillionen-Dollar-Unternehmen aufbaute (ganz ohne Kapital)], Forbes.com, 22. April 2020, https://www.forbes.com/sites/tanyatarr/2020/04/22/how-this-secretary-built-a-multi-million-dollar-corporation-without-any-capital/?sh=33005be33cc5/.
- Maupin, „Ein Interview”, Herold, August 1979.
- Hintergrundinformationen zur Bedeutung des Wortes Gihon finden Sie in Mary Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift (Boston: The Christian Science Publishing Society), 587.
- Maupin, „Ein Interview”, Herold, August 1979.